Erinnern – oder besser schweigen?

2874

Wenn von der Notwendigkeit des Erinnerns die Rede ist, muss ich oft an das Gespräch mit dem alten Serben aus Golubic denken. Todor Opacic war einer der ersten, der nach der Militäroperation „Oluja“ (Sturm) wieder in sein Heimatdorf zurückgekehrt war, ein Dorf in der Nähe der Provinzstadt Knin, wo im im Sommer 1995 die kroatische Armee in einer Großoffensive die serbisch besetzen Gebiete zurück eroberte. 20 Jahre später stand ich mit Todor Golubic am Grab seiner Mutter. Vor ihrem Haus war sie, 80 Jahre alt, von den einrückenden kroatischen Einheiten erschossen worden worden. Insgesamt kamen in Golubic während der Operation Oluja 33 serbische Zivilisten ums Leben.

Später, am Nachmittag, saßen wir im Garten unter einem schattigen Baum. Zwei Nachbarn waren gekommen, es gab türkischen Kaffee und einen selbst gemachten Sirup aus der Drenjina-Beere. Todor Opacic hat seinen Frieden gemacht. Hier leben einfache Leute, sagte er. Serben und Kroaten. Man helfe sich und besuche einander. Und spricht man dann auch über den Krieg? Über das, was hier vor 20 Jahren passiert ist? Auf diese Frage hatte mich Todor Opacic erstaunt angeschaut. „Natürlich nicht“, hat er gesagt. „Niemals.“

Das, dachte ich, ist dann wohl der Preis des Friedens. Heute erinnert in Golubic nichts mehr an die Zerstörung von damals. Auch Todor Opacics Haus war wieder aufgebaut und erstrahlte in hellem Weiß. Ein Anbau dient als Speisekammer und Aufbewahrungsort für die dalmatinische Spezialität, den Prsut, einen luftgetrockneten Schinken. Hinter dem Haus erstreckt sich ein kleiner Weinberg. Und weiter runter ins Tal schauend, über die Dächer der anderen Häuser von Golubic, dachte ich: Warum sollten sich die Leute hier auch das Leben schwer machen – über etwas sprechen, worüber man sich sowieso nicht einigen kann? Für die Kroaten von Golubic markiert die Militäroperation „Oluja“ den Sieg über den serbischen Aggressor, mit dem die Souveränität über das gesamte Staatsgebiet wieder hergestellt wurde. Die Serben denken dagegen an die Kolonnen von Flüchtlingen, von denen die meisten nie zurückgekommen sind, trauernden Familien, die ihre Angehörige verloren haben oder immer noch vermissen. Das Reden über den Krieg aber, so die leidvolle Erfahrung von beiden Seiten bis heute, führt nicht zur Versöhnung, sondern endet immer wieder im Streit.

Hat der serbische Präsident Aleksandar Vucic also Recht? Im Februar hatte er bei einem Besuch in Zagreb eine Art Moratorium vorgeschlagen: Serben und Kroaten sollten einmal versuchen, sechs Monate lang nicht über die Geschichte sprechen, sondern sich ausschließlich den Fragen der gemeinsamen Zukunft widmen. Lässt man einmal beiseite, dass der ehemalige Radikalnationalist Vucic auch persönliche Interessen hat, den Deckel auf die Vergangenheit zu legen – in der derzeitigen Atmosphäre, die zwischen beiden Ländern herrscht, hat der Vorschlag durchaus Charme. Das übliche Paradigma der Versöhnung lautet: Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist die Voraussetzung für Versöhnung – und damit für eine gemeinsame Zukunft. Was aber wäre, wenn es genau umgekehrt wäre? Zumindest manchmal? Wer das Trennende zunächst beiseite lässt und sich auf die gemeinsam Gegenwart und Zukunft konzentriert, der kann dem anderen gegenüber vielleicht auch irgendwann leichter die dunklen Kapitel seiner Vergangenheit zugestehen. Die gemeinsame Erinnerung stünde so gesehen am Ende des Prozesses der Versöhnung, nicht am Anfang.

Die Vertriebenen und Hinterbliebenen der Ermordeten von Visegrad würden dem wohl kaum zustimmen. Bis zu 3.000 Muslime wurden hier innerhalb weniger Monate von Angehörigen serbischer paramilitärischer Einheiten ermordet. Die wenigen Rückkehrer kämpfen bis heute um die Anerkennung ihres Leids, während die Täter immer noch als Helden gefeiert werden. Und Visegrad ist in Bosnien kein Einzelfall. Dass man die Vergangenheit auch mal ruhen lassen müsse, hört man hier folgerichtig vor allem von den Tätern.

Und doch beobachte ich auch immer wieder, dass Zusammenleben möglich ist, nicht weil die Vergangenheit aufgearbeitet wurde, sondern im Gegenteil: weil sich bewusst oder unbewusst entscheiden wurde, Politik und die Deutung der Kriegs auszusparen. In Golubic jedenfalls, so schien es mir, ermöglicht das Vergessen einen zarten Frieden. Oder anders gesagt: Die Vorstellung, dass Erinnern grundsätzlich gut und Vergessen böse ist, wollte mir an diesem Tag, im Garten von Todor Opacic sitzend, nicht so ganz einleuchten.